Editorial Nr. 58
Liebe Leserinnen und Leser,
»Markencheck im WDR« oder »Ausgeliefert! Leiharbeit bei amazon« haben es zur besten Sendezeit ins Fernsehen geschafft. Ich bin sensibel geworden und empöre mich. Wieder ist eine Fabrik in Bangladesch, die zu Hungerlöhnen und unter miserablen Bedingungen preiswert Kleidung herstellte, eingestürzt. Ich bin sensibel geworden und empöre mich. Ich weiß, dass mein Pro-Kopf-Verbrauch an Rohstoffen und Energie in Deutschland nicht global verträglich ist. Mein Lebensstil ist nicht globalisierbar. Ich bin sensibel geworden und bleibe ratlos.
Ratlos, weil mir der Widerspruch so bewusst ist zwischen meiner Einsicht und den Entscheidungen, die wirkliche Veränderungen einleiten. Ich ahne, dass es nicht ausreicht, als Einzelne bewusst einzukaufen, Verkäufer mit den Fragen nach der Herkunft von Produkten zu löchern, einen Weg durch den »Produktsiegel-Dschungel« zu suchen und mehr Fahrrad zu fahren. Ich ahne, dass mehr passieren muss. Es braucht gesamtwirtschaftliche Entscheidungen und die Erkenntnis:
Wenn das globale Gemeinwohl nicht gesichert werden kann, geht es allen schlechter.
Deshalb hat mich das Motto des diesjährigen Kirchentages in Hamburg stark angesprochen: Soviel du brauchst. Da ging es sicher auch um mein individuelles Leben und meine persönlichen Entscheidungen über meinen Lebensstil.
Aber da war auch das »Wir«, das gemeinsame Nachdenken, Erfahrungen austauschen, Ideen entwickeln, sich gemeinsam trauen zu denken, wie die Chancen auf ein würdiges Leben in der Welt gerecht verteilt werden können.
Und da war Hoffnung, die prophetische Vision, wie Gerechtigkeit und Solidarität aussehen kann. »Ich kann nicht unter mehr als einem Feigenbaum sitzen,« hat Bischof Nick Baines in seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages gesagt. Jemandem gerecht zu werden braucht den Blick der Liebe – auf andere und auf sich selbst.
»Die Gerechtigkeit im biblischen Sinn hat ganz wache offene Augen für das, was ein Mensch braucht«, schreibt Ingo Baldermann in diesem Heft. Wie viel brauchst Du? Wie viel ist genug? Wie viel ist gerecht?
Machen wir uns mit unseren Schülerinnen und Schülern auf den Weg!
Ihre Folke Keden-Obrikat