Editorial Nr. 62

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde – so sagt Karl Valentin in seinem Gespräch mit Liesl Karlstadt. Er spielt dabei auf eine Ausnahmeerscheinung an, die für uns so typisch zu sein scheint: den engstirnigen Einheimischen, der seit Generationen an dem Ort seiner Vorväter wohnt und dort noch nie herausgekommen zu sein scheint.

Dabei ist die Geschichte der Menschheit von Migration gekennzeichnet. Im Geschichts­unterricht lernen wir sie unter der Überschrift Völkerwanderung kennen, in der Bibel finden wir sie von den Vätergeschichten über die Propheten bis hin zur Flucht Marias und Josephs mit dem kleinen Jesus nach Ägypten. Christen flohen und fliehen bis heute, weil ihre Religion nicht geduldet ist. In unserer Gesellschaft existiert kaum jemand, dessen Großvater oder Großmutter nicht zumindest aus einer anderen Gegend oder sogar einem anderen Land eingewandert ist. Zwei Arten von Migration haben wir dabei vor Augen:

Positiv sehen wir die Auswanderung, bei der jemand beschließt, dass er ein anderes Land mehr liebt als das eigene und deshalb dorthin zieht. Diese Einwanderer, die unserer Meinung nach begierig sind, sich bei uns anzupassen und unsere Sprache zu lernen, sind uns herzlich willkommen.

Als problematisch sehen wir die Einwanderung von Menschen, die aus ihrem Land fliehen, weil sie zu dem Entschluss gekommen sind, dass sie dort aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen nicht mehr leben können. Wir haben Angst, dass sie sich Deutschland nur ausgesucht haben, weil sie sich hier in der sozialen Hängematte ausruhen könnten oder dass sie unser Land überfremden.

Unser Augenmerk soll in diesem Heft vor allem dem Thema Flucht gelten. Es soll helfen, Schülerinnen und Schülern dieses angstbesetzte und komplexe Thema näher zu bringen und über ihre Einstellungen zu reflektieren. Neben der Vermittlung der Frage »Wie ist das eigentlich, fliehen zu müssen?« geht es auch um die Klärung der verwirrenden Begrifflichkeiten wie Duldung, Aufenthaltsgenehmigung etc.

Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit der Frage »Wie kann Religionsunterricht in Internationalen Förderklassen aussehen?« und zeigt Unterrichtsbeispiele für den Unterricht mit neu eingewanderten Jugendlichen.

Menschen kommen und gehen. Nach vielen Jahren in der BRU-Redaktion verabschiede auch ich mich schweren Herzens von den Leserinnen und Lesern. Andere Dinge schulischer und privater Natur verlangen meine verstärkte Aufmerksamkeit. Ich habe die gemeinsame Zeit in der Redaktion sehr genossen und mich gefreut, immer mal wieder gezwungen zu sein, über den Tellerrand des Schulalltags hinauszuschauen. Ich danke der Redaktion, den Herausgebern und den Leserinnen und Lesern, mir dafür einen Rahmen geboten zu haben.
           

Annette Schäfer-Roth