Editorial Nr. 65
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Let’s talk about sex! Muss es denn wirklich ein Heft zur Sexualität sein?
Ich habe mich im Redaktionsteam mit diesem Heft zunächst schwer getan, denn ist nicht schon längst alles gesagt zum Thema Sexualität? Ist der Diskussion um sexuelle Orientierungen und Rollenbilder in der Gesellschaft noch etwas hinzuzufügen? Die Ev. Kirche im Rheinland hat auf ihrer Synode im Januar 2016 die Trauung für Partner und Partnerinnen jeder sexuellen Orientierung geöffnet. Gender wird auch in den Kirchen diskutiert. In der Schule ist sexuelle Aufklärung längst Bestandteil von Lehrplänen und in Beratungskonzepte oder Gesundheitstage eingebettet. Ich hatte Sexualität als Thema für den Religionsunterricht aus dem Blick verloren.
Zu Unrecht, denn es lohnt sich, genauer hinzuhören und das Gespräch über Sexualität, Gender und Rollenbilder wieder aufzunehmen: Wenn weibliche Auszubildende überlegen, wie sie auf kleinere oder größere Übergriffe von Männern am Arbeitsplatz reagieren sollen. Oder wenn es ganz offensichtlich für einige Schülerinnen und Schüler etwas anderes bedeutet, wenn Ansagen oder Disziplinierungsmaßnahmen von einer weiblichen Kollegin oder einem männlichen Kollegen getätigt werden. Wenn bei der Erarbeitung der Schöpfungserzählung doch noch mal über Homosexualität gesprochen wird, aber eigentlich alle spüren, dass die Frage »Was ist denn natürlich?« nicht so weit trägt. Oder: Wenn Schülerinnen und Schüler versuchen, die Maßstäbe für ihre eigene Haltung zu Genderfragen zu hinterfragen und erkennen, dass das biologische Geschlecht immer in einer sozialen, kulturellen und manchmal auch religiös geprägten Wirklichkeit existiert. Welche Rolle spielt die Religion für das Denken und Verhalten im Blick auf Gender und Sexualität?
Und dann die Silvesternacht in Köln und anderen Städten. Zahlreiche Frauen werden bestohlen und erleben sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigung. Es folgt eine Diskussion über Sexismus, Einwanderung und Werte. Die Ereignisse werden von unterschiedlichen Gruppen mit eigenen Themen verknüpft und für eigene Ziele ausgenutzt. Die Analyse der Ereignisse dauert an. Meine Schülerinnen aus dem Bildungsgang Rechtsanwaltsfachangestellte haben ihren Weg gewählt und eine Opferschutzbeauftragte der Polizei in den Religionsunterricht eingeladen, um sich unter anderem über die schon vor den Kölner Ereignissen geplanten Reformen des Sexualstrafrechts zu informieren. Diese Reform wurde im Juli 2016 vom Bundestag verabschiedet.
Aber auch ist es notwendig, weiter zu sprechen über »Nein heißt Nein!«, über sexuelle Selbstbestimmung, über Tabus und Geschlechterbilder, über Macht, Nationalismus, religiös geprägte Leitbilder und soziale Ungerechtigkeiten unter dem Vorzeichen Geschlecht und über die Frage der Deutungshoheit. Wie kann es uns gelingen, unsere eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren, welchen haltgebenden Ordnungsrahmen wollen wir akzeptieren und wie können wir lernen, die Vielfalt von Andersartigkeit anzuerkennen?
Let’s talk about sex!
Folke Keden-Obrikat