Editorial Nr. 70
Zeit ist ein unfassbares Etwas. Sie ist von Menschen nicht aufzuhalten, nicht zu lenken oder zu kanalisieren. Sie bleibt selbst unsichtbar und ist nur an den Objekten ihres Wirkens, an Veränderungen oder Abfolgen wahrnehmbar. Aufgrund der Zeichen des Werdens und Vergehens drängt sich die Vermutung auf, Zeit existiere als eigene Größe.
Auch wenn Menschen Zeit als etwas gleichmäßig Fließendes denken, erleben wir Zeit rhythmisiert. Der Herzschlag in unserer Brust, der Wechsel von Tag und Nacht, die Folge der Jahreszeiten und die Gezeiten am Meer helfen uns, Zeit sehr unterschiedlich wahrzunehmen und zu gewichten. In Phasen der Hektik haben wir »keine Zeit«, weshalb wir uns in anderen Momenten ganz bewusst »Zeit nehmen«.
Menschliche Gemeinschaften »nehmen sich Zeit« für Feste und Feiern. »Eine Kultur, die keine Feste kennt, ist undenkbar«, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. »Das Gleichmaß der Tage muss immer wieder durchbrochen werden, um den Rhythmus des Lebens anschaulich hervorzuheben. Feste sind demnach Medien, die der abstrakten Zeit eine Gestalt geben. Erst durch Feste wird das sich von Tag zu Tag fortsetzende Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft sinnlich wahrnehmbar und in größere Ordnungen eingegliedert.« (Assmann: Feste als kulturelle Selbstinszenierungen, in: Feste feiern. Ausstellungskatalog des Kunsthistorischen Museums, Wien 2016, S. 27–31)
»Richtig feiern können« ist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive fester Bestandteil der Sozialkompetenz eines gebildeten Menschen. Theoretische Auseinandersetzungen mit dem Thema Zeit zu feiern passen in den BRU. Entsprechendes Material zum Sinn des Lebens oder zu Religiöse Feste lässt sich unterrichtlich gut bearbeiten. Die Eingliederung in »größere Ordnungen«, die mit Feiertagen verbundenen Erzählungen, insbesondere die religiösen Dimensionen, gehören zum Kernbereich des BRU.
Und die Praxis? »Eine Kultur, die keine Feste kennt, ist undenkbar.« Wie feiern wir in unseren Schulen? Ist die Einschulung eine Feier oder eher Akt der Schulorganisation? Schulfeste für die gesamte Schule? Feiern in einzelnen Schulformen, Jahrgangsstufen oder Klassen? Im Kollegium? Feierkultur? Verabschiedungen gehören dazu: Was macht sie feierlich? An welchen Vorbildern orientieren sie sich? Bieten sie etwas für spätere Erinnerungen? Oder geschieht das Eigentliche erst beim anschließenden Besäufnis?
Zeit zu feiern erleben wir als vielfältiges und anregendes Thema mit Möglichkeiten praktischer Umsetzung. Berufskollegs und Berufsschulzentren fördern die Individualisierung. Sie dienen der persönlichen Bildung und beruflichen Ausdifferenzierung. Zugleich sind sie Brennpunkte der multi-ethnischen Gesellschaft – »Erziehung zur Geselligkeit«. Hier sind Feste und Feiern besonders wichtig. Also: Zeit zu feiern!
Viele Grüße aus der Redaktion!
Markus Ihle