Editorial Nr. 73
Siehe, in meine Hände
habe ich dich eingezeichnet.
(Jes 49,16)
Blick zurück nach vorn. Erinnern, Vergessen, Zukunft. Was wissen wir schon von all dem?
Es sind Konstrukte, um sich in dem, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, zurecht zu finden. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild (1. Kor. 13,12). Die Zeit lebe mehr in uns als wir in ihr, lehrt der Physiker Carlo Rovelli. Schon der Kirchenlehrer Augustinus fragte, ob Vergangenheit und Zukunft überhaupt existieren und beschrieb einzig die Gegenwart als real. Doch mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern (Erich Kästner). Und ehe wir uns versehen, befinden wir uns auf der Suche nach der verlorenen Zeit; das Vergessen wirft sein dunkles Tuch über das, was war. Wir erkennen »stückweise«, aber das ist erst der Anfang, denn wir werden erkennen, wie wir erkannt sind. Jede und jeder ist unverwechselbar und einzigartig unverlierbar kostbar! Menschen mit Demenz, Menschen im Wachkoma, auch Sterbende sind uns häufig bereits weit voraus auf dem Weg der Erkenntnis.
Wir können nichts festhalten und sind Vorübergehende. In Afrika heißt es, die Vergangenheit läge vor uns, denn wir können sie betrachten und die Zukunft befindet sich in unserem Rücken. Der Blick nach vorn ist getragen von Erinnerung. Hoffnung braucht Erinnerung! Der sinnstiftende Rekurs auf vergangene Ereignisse bildet die Identität von Judentum, Christentum und Islam. Die heiligen Schriften berichten übereinstimmend von einem Gott, der zivilisatorischen Fortschritt wünscht; er fordert und fördert einen achtsamen und schützenden Umgang mit Schöpfung und Geschöpfen. Jede und jeder Einzelne im Hier und Jetzt kann erheblich dazu beitragen, indem sie und er sich gegen die Mächte des Todes wenden, wie sie in allen Formen des Leids, der Gewalt, der Krankheit, des Unrechts, der Traumatisierungen mitten im Leben das Leben bedrohen (Frank Crüsemann).
Ist Gewaltausübung hinreichend stark »legitimiert«, gibt es stets eine Mehrheit, die bereit ist, schreckliche Dinge zu tun. Menschen,die Sadismen und Gewalt in Folterkellern, Konzentrationslagern oder an anderen Schreckensorten überlebten, berichten, sie hätten die Menschen wahrhaft kennengelernt: die einen in ihrer Fähigkeit zu extremer Grausamkeit und Gleichgültigkeit und die anderen in ihrer Fähigkeit zu vollkommen selbstloser Güte. Beides existiert und beides wird durch extreme Situationen befördert. Wer sich auf welcher Seite findet, ist nicht vorhersehbar. Die Traumatologin Katrin vom Hoff arbeitete viele Jahre mit Straßenkindern in Malawi, Botswana und Südafrika und seit einiger Zeit mit geflüchteten Jugendlichen in Deutschland. Von ihnen lernte sie: Menschen helfen Menschen! – Eben dies zeigte sich im Übrigen im Kontext der Zuwanderung nach dem September 2015, und es zeigt sich auch angesichts der Corona-Pandemie. Menschen helfen Menschen!
Gleich, in welchem Beruf wir ausgebildet werden und arbeiten, auf das couragierte, emphatische und verantwortungsbewusste Handeln jedes Einzelnen kommt es an. Dieses Potential verändert Zukunft im besten Sinne. Zu wecken versteht es ein BRU, in dem Lernende und Lehrende gemeinsam den Blick zurück nach vorn richten auf Beispiele von Liebe, Hoffnung und Glauben.