Editorial Nr. 75

Editorial

von Sven Sroka

Liebe Leserinnen und Leser, 

als ich mich vor einigen Wochen mit ein paar Bibelexemplaren in der Hand auf den Weg in den Religionsunterricht des beruflichen Gymnasiums machte, begegneten mir auf dem Weg dorthin mehrere Kolleginnen und Kollegen. »Seit wann macht man das denn wieder?«, fragte meine Aufzugsbegleitung erstaunt. Ein anderer rief mir im Vorbeigehen auf dem Gang zu: »Oh, so wie früher!« Merkwürdig, denke ich, denn vermutlich dürfte der junge Kollege von solchen Zeiten nur gehört haben.

Tatsächlich ist seit Kaufmanns 1966 vorgetragenem Zweifel, ob die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen müsse, viel Zeit vergangen, und religionspädagogische Ansätze wie die Kulturhermeneutik und die Problemorientierung haben auch die Bibeldidaktik stark beeinflusst. Für viele unserer Schülerinnen und Schüler an berufsbildenden Schulen ist das Lesen der Bibel und die Auseinandersetzung mit biblischen Geschichten, Themen und Motiven heute eine Erstbegegnung. Man sagte mir, das sei früher einmal anders gewesen, aber ich kenne es nicht anders. Für mich sagen die Blicke der Schülerinnen und Schüler beim Betreten des Klassenraums immer dasselbe: »Ist das die Bibel? Bitte bloß nicht zu viel lesen.«

Umso schöner, wenn eine Schülerin in einer Gruppenarbeit in der Mitte der Unterrichtsstunde ruft: »Guckt mal, das ist ja richtig klug, was da steht!« Sie meint die Antithese vom Ehebruch in Mt 5,27 und er­zählt: »Davon hätte sich mein Ex-Freund mal eine Scheibe abschneiden können.« Dass Jesus den Ehebruch hier bereits mit einem »begehrlichen Blick« beginnen lässt und ihn damit in einen rechtlich nicht einklagbaren Raum verlegt, nämlich in die unmittelbare Verantwortung des einzelnen Menschen vor Gott, geht nicht unmittelbar aus dem Geschrie­benen hervor. Auch dass die Frage nach der Würde und Integrität der Frau aus der patriarchalischen Sichtweise des Textes heraus außen vor bleibt, spielt für die Schülerin gerade keine Rolle.

Vorne am Pult überlege ich mir zwischenzeitlich, ob es sich zeitlich und im Sinne des Stundenziels lohnt, die Äußerung der Schülerin aufzugreifen und zu kontextualisieren. 

Ergibt sich bei biblischen Bezügen im Unterricht nicht immer die Schwierigkeit, zwischen theologischer Genauigkeit und didaktischem Nutzen abwägen zu müssen? Schön wäre es doch, solche Aha-Momente wie den der Schülerin in andere Klassen und andere Bildungsgänge übertragen zu können, am besten noch handlungsorientiert, mit passendem Berufsbezug und einem schönen Lernszenario.

Ob wir der Bibel im Religionsunterricht dann gerecht werden? 

Und während ich mir vorne den Kopf zerbreche, freut sich die Schülerin einfach über die neu entdeckte Weisheit, schreibt sie auf und sieht ihre Wirklichkeit jetzt vielleicht mit anderen Augen. Und wer weiß, vielleicht wagt sie in Zukunft auch privat öfter mal einen Blick in die Bibel, lässt sich überraschen und wir und die Anderen kommen dann ins Gespräch über die frohe Botschaft. 

Herzliche Grüße und viel Freude beim Lesen!