Editorial Nr. 77

von Folke Keden-Obrikat

Echt jetzt?! Das letzte Mal habe ich das gedacht, als es bei der Zugfahrt von Wuppertal nach Aachen in Köln Horrem gegen 16.30 Uhr plötzlich hieß: Bitte alle aussteigen. Der Zug endet hier. Wegen Vandalismus auf der Strecke kommt kein Zug nach Aachen durch. Abends wollte ich in Aachen sein. Ein lang vereinbarter Termin zur Verabschiedung einer lieben Kollegin in den Ruhestand. Echt jetzt?! Wie sollte ich die ca. 55 km zurücklegen. Keine Ersatzbusse, keine Möglichkeit, mich abholen zu lassen. Warum stehlen Menschen Kabel an der Bahnstrecke und verändern damit die Planungen und Wirklichkeiten von tausenden von anderen Menschen? Ich kann es kaum fassen. Chaos am kleinen Bahnhof…

Nach 1,5 Stunden ergattere ich mit drei weiteren Gestrandeten einen Platz in einem Taxi nach Aachen. Der Taxifahrer ist missmutig, denn eigentlich hätte er heute frei. Sein Job macht ihm nicht wirklich Spaß. Seine Laune hebt sich, als wir uns erzählen, was wir »so machen«. Einer ist auf dem Weg zum Theater in Aachen. Er spielt Kontrabass und ist für einen erkrankten Kollegen im Orchester eingesprungen. Auf der Rückbank eine Studentin der Zahnmedizin, neben ihr Lisa Marie, eine Influenzerin bei TikTok mit 300.000 Followern und ich als evangelische Pfarrerin. Diese Taxifahrt ist eine eigene Wirklichkeit. Wir alle empfinden das so. Wir sprechen darüber, wie stressig es ist, wenn man Influenzerin ist, was wirklich und was inszeniert ist, aber auch über Glauben und Orchestermusik und wie viel man wo verdienen kann. In Aachen angekommen werden noch schnell Fotos gemacht. Der Taxifahrer will jetzt Lisa Marie »folgen« und hofft, dass er bei ihr lobend erwähnt wird.

Fünf Wirklichkeiten treffen aufeinander. Wir haben etwas von uns erzählt und zugehört. Die Perspektive des jeweils Anderen war ganz nah. Ohne die gesperrte Zugstrecke wären wir uns niemals begegnet. Diese Taxifahrt hätte man so nicht erfinden können.

Begegnung ermöglicht neue Wirklichkeit. Oft müssen wir uns auf Berichte, Bilder oder Erfahrungen aus zweiter Hand oder Deutungen Dritter verlassen. Dabei suchen wir nach dem eigenen Standpunkt, nach einem Blickwinkel, nach Maßstäben zur Einordnung oder nach Alternativen, nach Vertrauen und Hoffnung für unser Leben. Was ist wirklich? Was ist wahr? Diese Fragen bestimmen einen andauernden, herausfordernden Prozess der Bereitschaft zum Perspektivwechsel und zum Dialog.

Die Beiträge in diesem Heft möchten Sie und ihre Schülerinnen und Schüler bei der Suche nach Perspektiven unterstützen.