Editorial Nr. 78
Editorial
von Petra Sorg
Liebe Leserinnen und Leser,
Liberame – »befreie mich«, so heißt das Boot, das fünf Hamburger Segelfreunde auf einem unbeschwerten Segeltörn – Prosecco und den eigenen Wohlstand genießend – durch das blaue Mittelmeer schaukeln soll. Dann begegnen sie einem überfüllten, in Seenot geratenen Motorboot mit dutzenden Afrikanern und Syrern – Flüchtlingen auf dem Weg ins rettende Europa.
Nach internationalem Seerecht sind die Hamburger zur Nothilfe verpflichtet. Das machen sie auch, bringen Medikamente und Wasser. Doch den Motor des abgetakelten Kahns der Flüchtlinge, den können sie nicht reparieren. Was tun? Der nächste Hafen meldet sich nach dem abgesetzten SOS-Notruf erst gar nicht. Das Boot zur nächsten Küste nach Italien schleppen hieße, sich der Hilfe zur illegalen Einreise schuldig zu machen. Die mitsegelnde Rechtsanwältin weiß, das könnte bis zu einem Jahr Freiheitstrafe bedeuten.
In der sechsteiligen ZDF-Serie Liberame – Nach dem Sturm geht es um die Frage: Was ist hier das Böse und was das Gute? Helfen hieße sich juristisch schuldig machen, nicht helfen, moralisch. Was tun? Die Freunde stimmen ab, abschleppen oder nicht?
Ist das vielleicht schon böse, über das Schicksal von Menschen abzustimmen? Über das Leben notleidender Menschen zu entscheiden per Kreuzchen auf einem Schnipsel Papier? Die Freizeitschipper entscheiden sich für das Abschleppen nach Italien. Erstmal scheint alles gut. Doch dann kommt in der Nacht ein Sturm auf und der Hobby-Kapitän beginnt zu ahnen, dass er es mit dem abgeschleppten Kahn nicht schafft bis Italien. Er ändert die Route in Richtung auf das näher gelegene Libyen, wo die Geflohenen genau nicht hinwollen. Ist das böse?
Oft ist es nicht leicht, genau das zu entscheiden. In diesem Heft haben wir nach langen philosophischen Diskussionen, was denn »das Böse« sei, pragmatisch entschieden, einfach Begegnungen mit dem Bösen nachzugehen. Dabei führen die Begegnungen nicht nur ins Gefängnis, sondern auch zu einem Kinderbuch, den TV-Serien, die unsere Schüler und Schülerinnen konsumieren, in den Straßenverkehr und zur Verkörperung des Prinzips des Bösen – zum Teufel – sowie in den Alltag.
Erlöse uns von dem Bösen, die Bitte aus dem Vaterunser liest sich für manche dann vielleicht neu. Kann es sein, dass Libera me gar keine fromme Bitte ist, sondern eher die Einsicht, wie komplex es ist, das Böse?